Sehen lernen: Der erste Schritt zum visuellen Storyteller

Petra Sammer
8 min readOct 4, 2021
Photo by Edi Libedinsky on Unsplash

Im Januar 2006 ist die Bergsteigerszene in heller Aufregung. Über 250 Nachrichtenportale und Bergsteigermagazine, aber auch Tageszeitungen, Radio- und Fernsehstationen in aller Welt berichten, dass eine 85-jährige Engländerin den Mount Everest besteigen wolle. Mary Woodbridge aus Greenfield will die erste Seniorin sein, die den höchsten Gipfel der Welt bezwingt.

Die Community der Alpinisten diskutiert wochenlang in Foren und Onlineplattformen, wie realistisch oder wie fahrlässig dieser Plan sei. Dass die rüstige Lady ihren Dackel mit auf Tour nehmen wolle und eine ganz eigene Route ohne Zwischenhalt plane, da sie nicht gern campiere, befeuerte die Diskussion noch mehr.

Dies und die Tatsache, dass der alten Dame die Idee zu dem waghalsigen Vorhaben durch den Kauf einer Jacke der Marke Mammut gekommen war, hätte die Fachwelt misstrauisch machen müssen. Aber die Bilder auf der von »Enkel Phil« erstellten Website, die Videos, in denen Miss Woodbridge ihren Plan erläuterte, sowie die E Mails mit der Bitte um Unterstützung, die sie an zahlreiche Bergsportausrüster verschickte, erschienen so authentisch, dass viele der Story Glauben schenkten.

Bis zwei Monate später schließlich der Bergsportausrüster Mammut reagierte. Das Schweizer Unternehmen nahm Bezug auf die Jacke von Miss Woodbridge und veröffentlichte folgenden Warnhinweis: »Warnung: Mit so guter Ausrüstung kann man sich leicht zu sicher fühlen.« Damit deckte es zur Erheiterung der Bergsteigerszene die Geschichte als Marketingkampagne auf.

Tools, Tools, Tools — so what …

Grafik, Fotos und Videos, von Mammut im oben genannten Beispiel als visuelle Story hervorragend eingesetzt, sowie animierte Gifs, Multimedia-Storys und Virtual Reality Games — all diese Werkzeuge sind Ausrüstungsgegenstände des visuellen Storytellings. Doch wie bei Mary Woodbridge gilt auch hier: Mit hervorragender Ausrüstung kann man sich leicht zu sicher fühlen. Denn was helfen einem die besten Werkzeuge, wenn man keinen Plan hat, der zum Ziel führt? Was helfen Tools und Instrumente, wenn es an Ideen, Strategien und Umsetzungsvermögen fehlt? Dieses Kapitel soll Ihnen dabei helfen, visuelles Storytelling tatkräftig, planvoll und strategisch in Angriff zu nehmen.

Da »Strategie « ein abstrakter Begriff ist, den unser visuelles Gedächtnis nicht speichern kann, möchte ich gedanklich bei der Gipfelbesteigung bleiben und Sie zu einer Bergtour einladen. Es gilt nicht, den Mount Everest zu bezwingen, sondern den Gipfel des visuellen Storytellings. Und hier ist die Route:

Trainingscamp: Zunächst jedoch starten Sie im Trainingscamp. Vor dem Aufstieg sollten Sie Ihre ganz persönlichen visuellen Fähigkeiten trainieren und Ihre eigenen Storytelling-Muskeln aufwärmen. Ihr Etappenziel: Bevor Sie Ihr Unternehmen und Ihr Kommunikationsteam vom visuellen Storytelling überzeugen, wenden Sie die Technik zunächst selbst in der eigenen Kommunikation und in eigenen Präsentationen an. Werden Sie selbst zum visuellen Storyteller — für Ihre Kollegen und im Arbeitsalltag.

Basislager: Dann geht’s los, zunächst zum Basislager, wo Sie die Grundausstattung für Ihr visuelles Storytelling in der Unternehmens- und Produktkommunikation inspizieren. Ihr Etappenziel: die für Ihr Unternehmen oder Ihre Marke passende visuelle Sprache zu finden.

Hochlager: Der nächste Schritt ist das Hochlager. Hier knüpfen Sie neue Seilschaften. Denn gute, visuell erzählte Storys inspirieren und motivieren Kunden, Freunde und Fans dazu, sich anzuschließen und Ihrem Unternehmen und Ihrer Marke zu folgen. Ihr Etappenziel: Die Viralkraft visueller Geschichten zu nutzen, um neue Kunden, Freunde und Fans zu gewinnen.

Gipfel: Und schließlich geht es zum Gipfel des visuellen Storytelling: zu den Highlights Ihrer Strategie. Das sind Storys und Kampagnen, mit denen Sie unverwechselbar werden und mit denen Sie die Aufmerksamkeit Ihres Publikums auf sich ziehen. Ihr Etappenziel: »Über-Images« zu schaffen, Bildstorys, die aus dem Tsunami an Informationen und der Bilderflut von heute herausragen.

Doch beginnen wir am Fuße des Berges mit Ihrem ganz persönlichen Fitnessprogramm.

Ab ins Trainingscamp

»Visual storytelling is not new. During the very first media pitch I did, for the very first job I had in PR, about a decade ago, I heard a phrase that I would hear time and time again: ›What are the visuals?‹ What will the reader or viewer be able to see as they read/listen to this story? As I got better at my job, I learned to build visual communications right into the media stories we were trying to get traction for.«

Für David Hall, PR-Profi und Kreativen, ist visuelles Arbeiten ganz selbstverständlich.

»Bildhaftes Denken ist bei den meisten Profis aus Werbung, Film, 3- D-Animation oder Game Development eine besonders ausgeprägte kreative Fähigkeit«,

bestätigt auch der Kreativexperte Mario Pricken, der sich auf Kreativitätstechniken für ein visuelles Denken spezialisiert hat.

Sie könnten die Grafik, Datenvisualisierung, Bildbearbeitung und Filmanimation also gerne den Profis überlassen und sich entspannt zurücklehnen. Wirklich? So einfach ist es nicht, denn visuelles Denken lässt sich nicht delegieren. Wie wollen Sie Spezialisten beauftragen, wenn Sie deren Sprache nicht sprechen? Wie wollen Sie Ihre Wünsche in Briefings formulieren, wenn Ihnen die Vorstellungskraft dazu fehlt?

Trainieren Sie daher Ihre Imagination und Ihr bildhaftes Denken und legen Sie damit das Fundament für Ihr eigenes visuelles Storytelling — den Rest können Sie dann getrost den Profis überlassen.

Ihr erster Schritt: Lernen Sie (wieder) sehen

Sehen ist angeboren. Die Verarbeitung visueller Reize durch unser Gehirn ist, unabhängig von unserem IQ, jedem gleich gegeben. Wir müssen das Sehen eigentlich nicht erlernen (abgesehen von dem einen Jahr der Ausreifung des Sehsinnes als Kleinkind). Daher empfinden wir diesen Sinn als selbstverständlich. Unserer Fähigkeit zu sehen schenken wir oft erst Beachtung, wenn die Sehkraft nachlässt, was wir dann durch diverse Sehhilfen auszugleichen versuchen.

Doch über die Jahre verlernen viele von uns noch etwas anderes: die Fähigkeit, bewusst zu sehen — und hier können weder Brille noch Kontaktlinse Abhilfe schaffen. Wir sehen nur »flüchtig« hin und nehmen unsere Umgebung, aber auch deren Bilder, nur oberflächlich und grob wahr. Wir sehen »bequem« hin oder gar weg und verlassen uns auf eingeschliffene Sehgewohnheiten — ähnlich wie bei vorgefertigten Gedankenmustern und Vorurteilen. Wir sehen nur noch, was wir kennen, und ignorieren neue Sehweisen und unbekannte Bildwelten.

Oder aber, wir sehen nur im Ausnahmefall hin. Visuelle Reize lösen grundsätzlich zwei Reaktionsmuster aus: Hin- oder Wegsehen. Bekannte und gewohnte Bilder scheinen es nicht wirklich wert zu sein, hinzusehen. Unser visuelles Gehirn ist darauf konditioniert, visuelle Informationen auf Unbekanntes hin zu scannen und uns zu alarmieren, wenn Gefährliches in unser Blickfeld tritt. Wenn wir Neues allerdings nur als »alarmierend« wahrnehmen, besetzen wir neue Eindrücke von Anfang an als negativ und bleiben alten Denkmuster verhaftet.

»Training the eye is very important. You can not come up with ideas without seeing«,

mahnt die Grafikdesignerin und Professorin Inge Druckrey, die ihren Studenten zunächst die Kunst des Sehens beibringt, bevor sie nur einen einzigen Pinselstrich aufs Papier setzen dürfen. Als visueller Storyteller sollten Sie Ihrem Sehsinn daher große Beachtung schenken. Schärfen Sie Ihre Wahrnehmung für Details, Konturen, Farben, Räume und Perspektiven. Konzentrieren Sie sich auf das tatsächliche Sehen sowie auf das imaginäre Sehen, Ihre Vorstellungskraft. Nehmen Sie Ihre inneren Bilder bewusst wahr.

»Richtiges« Sehen ist mindestens so wichtig wie »gutes« Zuhören und sollte dementsprechend trainiert werden. Dazu rufen auch die Bildwissenschaftler auf. Sie fordern, dass wir kritischer hinsehen und bewusster mit visuellen Informationen umgehen sollten, die täglich auf uns einströmen. Wie gut ist also Ihre Beobachtungsgabe? Wie genau betrachten Sie Bilder und erforschen deren visuelle Botschaft?

Heute, wo wir von Bildern überflutet werden, sollten wir ganz besonders lernen, wieder gut hinzusehen. Nicht nur, um kritisch zu hinterfragen, sondern vor allem auch, um die Sprache des visuellen Wahrnehmens neu zu erlernen und selbst anwenden zu können. Doch wie kann man »Sehen« üben? Wie sieht so ein Trainingsprogramm aus?

Hier kommt Ihr persönlicher Sehtest. Sechs Übungen, mit denen Sie beginnen können:

1. Sehen statt Schauen: Blicken Sie sich um. Wo sitzen Sie gerade, während Sie dieses Buch lesen? Nehmen Sie Ihre Umgebung bewusst wahr — vor sich, neben sich, hinter sich. Identifizieren Sie aus dieser Umgebung einen Gegenstand: einen Stuhl, eine Tasse, eine Lampe, was immer Sie möchten. Konzentrieren Sie sich auf diesen Gegenstand, lösen Sie ihn aus seiner Umgebung und stellen Sie Ihre Augen »scharf«. Schauen Sie nicht nur, sondern sehen Sie genau hin. Beschreiben Sie mit Worten, was Sie sehen. Sprechen Sie ruhig laut vor sich hin oder notieren Sie alle Details, die Ihnen auffallen.

2. Mit den Augen zugreifen: Lassen Sie den Gegenstand stehen, wo er ist, doch greifen Sie mit den Augen nach ihm und ziehen Sie ihn gedanklich zu sich heran. Können Sie so seine Oberfläche genauer sehen bzw. sich vorstellen? Drehen Sie den Gegenstand vor Ihrem geistigen Auge. Sehen Sie ihn sich von hinten an, von der Seite und von unten. Schärfen Sie Ihre Vorstellungskraft durch diesen imaginären Perspektivwechsel.

3. Nachbilder betrachten: Schließen Sie Ihre Augen und betrachten Sie dann das »Nachbild « Ihres Gegenstandes. Je länger Sie den Gegenstand betrachtet haben, desto deutlicher sehen Sie das Abbild auf Ihrer Netzhaut, das allerdings nach wenigen Sekunden verblasst. Nutzen Sie diese Sekunden bei geschlossenen Augen, um nochmals genau hinzusehen, und versuchen Sie, das »Nachbild« so lange wie möglich vor Ihrem inneren Auge zu halten.

4. Farbe ins Spiel bringen: Betrachten Sie Ihren Gegenstand nochmals. Welche Farbe hat er? Wie ist die Farbe des Schattens, den der Gegenstand wirft? Wenn Ihr Gegenstand mehrere Farben hat, dann versuchen Sie, ihn sich einfarbig vorzustellen. Wenn Ihr Gegenstand einfarbig ist, dann wechseln Sie vor Ihrem inneren Auge die Farbe. So, als ob Sie sich eine Tomate blau vorstellen oder Wasser in Rot. Regen Sie Ihre Fantasie mit diesen Farbspielen an.

5. Visuell umformen: Der Gegenstand vor Ihnen ist real. Doch wie würde er aussehen, wenn er gezeichnet wäre? Versuchen Sie, sich Ihren Gegenstand als Teil eines Comics vorzustellen. Oder als Graffiti an eine Wand gesprayt. Spielen Sie mit verschiedenen Darstellungsformen.

6. Mit den Augen Geschichten erzählen: Der Gegenstand, den Sie sich ansehen, steht als Ding vor Ihnen. Doch was wäre, wenn er Arme und Beine hätte? Vielleicht hat er sogar einige Formen an sich, die wie Kopf, Hände oder Füße aussehen. Können Sie Ihren Gegenstand vor Ihrem inneren Auge zum Leben erwecken? Wie würde er aussehen, wenn er eine Persönlichkeit wäre? Können Sie sich vorstellen, dass er sich bewegt, plötzlich umkippt oder vom Tisch fällt? Versuchen Sie, sich eine kleine Actionszene mit dem Gegenstand vorzustellen — vielleicht gerät er in Streit mit seiner Umgebung und es kommt zu einem Kampf. Oder können Sie sich vorstellen, dass sich Ihr Gegenstand in einen anderen verliebt? Wie würde er sich bewegen, wenn er verlegen in die Ecke guckt und rot wird vor Scham? Trainieren Sie Ihre Vorstellungskraft — durch aktives Sehen. Und so wird aus einem Bürostuhl, einer Tasse und anderen Alltagsgegenständen schnell ein Actionheld oder ein Liebespaar.

Wenn Sie allerdings für all das keine Zeit haben, bitten ich Sie — wie auch das Kreativmagazin FastCompany, — um nur eine Sache: »If you do one thing watch this 40-minutes crash course ›Teaching to See by Inge Druckrey‹« — Sehen Sie sich den 40-Minuten-Crashkurs »Teaching to See« der Grafikdesignerin Inge Druckrey an. Dann werden Sie die Welt wirklich mit anderen Augen sehen.

Noch mehr Tipps: Sie wollen noch mehr Training? Diese oben genannten Übungen sind inspiriert von Mario Prickens Buch »Visuelle Kreativität«. Lassen Sie sich dort mit weiteren Kreativitätsübungen in neue Bildwelten entführen. Und noch ein Buch, das Sie in die Kunst des Sehens einweist: »Learning to Look: A Handbook for the Visual Arts« von Joshua C. Taylor.

Mehr zum Thema „Visual Storytelling“ und die weiteren Etappen zum Gipfel des visuellen Storytellings finden Sie in dem Buch, aus dem dieser Text stammt: „Visual Storytelling: Visuelles Erzählen in PR und Marketing“ von Petra Sammer und Ulrike Heppel, Verlag O´Reilly. — und auf diesem Blog: Amazing Stories

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Petra Sammer

pssst… Petra Sammer is a communications strategist, ideacoach, creative, speaker & book author — www.petrasammer.com