Kein Witz: Lernen Sie zeichnen
Im Alter von eineinhalb Jahren setzen wir die ersten Striche bewusst aufs Papier — vorausgesetzt, Papier und Stifte sind vorhanden. Die Erfahrung, selbst eine Spur auf etwas zu hinterlassen, ist für Kinder faszinierend, und viele Eltern haben die leidvolle Erfahrung gemacht, dass sich diese „Spur“ nicht nur auf Papier beschränkt.
Eine der ersten Basisformen, die Kinder zeichnen, ist ein Kreis. Die Form folgt der natürlichen Bewegung, die wir mit Schultern, Arm, Handgelenk, Hand und Finger machen. Nach wenigen Wochen des Kritzelns entdecken Kinder das Phänomen der Symbolik. Sie lernen auch durch die Reaktion der Betrachter ihrer Bilder, dass man »etwas erkennen kann«, dass das Gezeichnete etwas bedeutet. Der Kreis, zwei Punkte und ein Strich werden plötzlich zu einem Gesicht oder eben zu »Papa« oder »Mama«.
Die Kreisform wird beibehalten und im Alter von zwei bis drei genutzt, um auch Arme und Beine darzustellen. Auch im Alter von vier bleibt der Kreis die beherrschende Grundform, danach werden die Bilder komplexer. Hände und Füße bekommen Finger und Zehen, Körper bekommen Kleidung mit Knöpfen oder Reißverschlüssen.
Zwischen vier und sechs werden Kinder zu visuellen Storytellern. Sie nutzen ihre Bilder, um Geschichten zu erzählen — Begebenheiten aus ihrem Leben, Wünsche, aber auch Traumata werden bildlich verarbeitet. Ein Jahr später sind Kinder dann mit so vielen Symbolen vertraut, dass sie Landschaften und Szenerien zeichnen können — Himmel und Erde, Sonne und Blumen, Gartenzäunen und Autos. Sie haben gelernt, dass der Himmel oben und die Erde unten ist, und die Art und Weise, wie sie ein Haus malen, wird bei den meisten von da an für immer gleichbleiben.
Mit zehn wollen Kinder vor allem genau und realistisch malen. Es soll »richtig« aussehen. Da sie jedoch nicht mit den Techniken perspektivischen Zeichnens vertraut sind, geben viele an dieser Stelle frustriert auf und beendend ihre bisherige Entwicklung. Wenn Sie nicht gerade Architekt, Graphiker oder Künstler sind, malen Sie wahrscheinlich heute als Erwachsener immer noch das gleiche Haus, das Sie im Alter von zehn Jahren gemalt haben.
Sie auch?
Kein Grund, sich zu entschuldigen. Es geht vielen so wie Ihnen. Doch kann es nicht schaden, sich ein klein wenig weiterzuentwickeln oder einfach Mut zu beweisen und die Fähigkeiten des Zehnjährigen selbstbewusst einzusetzen. Die Kunstlehrerin Betty Edwards sieht zwei Gründe dafür, dass wir plötzlich mit dem Malen aufhören und diese Fähigkeit nicht weiter ausbauen: 1. Wir sind nicht mit den Regeln der visuellen Sprache vertraut. 2. Wir denken viel zu »links«.
Das ABC der visuellen Sprache
In der Schule lernen wir ausführlich die Regeln von Sprache und Schrift. Wir lernen das Alphabet, die Zusammensetzung von Buchstaben zu Wörtern, von Wörtern zu Sätzen, Satzzeichen, Silbentrennung und Vieles mehr. Doch wir lernen fast nichts über das ABC der visuellen Sprache.
Maler, Grafiker, Fotografen und Bildgestalter wissen um die fünf Grundlagen der Wahrnehmung, die für die Deutung von Bildern ähnlich entscheidend sind wie Phonetik, Syntax und Grammatik für Text:
1. Die Wahrnehmung von Kanten: Die Fähigkeit, zu erkennen, wo Dinge aufhören und beginnen.
2. Die Wahrnehmung von Raum: Die Fähigkeit, zu erkennen, was vorne, hinten und daneben liegt.
3. Die Wahrnehmung von Beziehungen: Die Fähigkeit, Proportionen und Perspektiven zu erkennen.
4. Die Wahrnehmung von Licht und Schatten: Die Fähigkeit, Helligkeit und Farbwerte wahrzunehmen.
5. Die Wahrnehmung von »Gestalt«: Die Fähigkeit, Details und gleichzeitig die Form als großes Ganzes zu erkennen.
Mehr noch als unsere Unkenntnis über die visuelle Sprache sieht Betty Edwards jedoch unsere »Linkslastigkeit« als Grund dafür, dass wir nicht richtig sehen und damit auch nur eingeschränkt in der Lage sind, zu malen.
Den L-Modus überwinden
Wir trainieren im Alltag regelmäßig unsere linke Gehirnhälfte, die für Text, Sprache und logische Zusammenhänge zuständig ist. Dagegen vernachlässigen wir unsere rechte, intuitive Gehirnhälfte, die für Visuelles und Bildhaftes verantwortlich ist.
Malen und Zeichnen sieht Edwards als ideales Trainingsfeld, um die rechte Gehirnhälfte zu trainieren und dadurch unser Fähigkeit zur besseren Wahrnehmung zu schulen.
»Learning to draw is really a matter of learning to see — to see correctly — and that means a good deal more than merely looking with the eye«, zitiert sie den Künstler Kimon Nicolaides in ihrem Bestseller »Drawing on the right side of the brain«.
Die Kreativitäts- und Zeichentrainerin Betty Edwards betont, wie stark wir von unserer linken, »logischen« Gehirnhälfte im Alltag dominiert werden:
»A caution: as all of our students discover, sooner or later, the left hemisphere is the Great Saboteur of endeavors in art. When you draw, it will be set aside — left out of the game. Therefore, it will find endless reasons for you not to draw: you need to go to the market, balance your checkbook, phone your mother, plan your vacation, or do that work you brought home from the office. What is the strategy to combat that? The same strategy. Present your brain with a job that your left hemisphere will turn down.«
Tipp: Wollen Sie wissen, wie dominant Ihre linke Gehirnhälfte tatsächlich ist? Betty Edwards hat dafür eine passende Übung entwickelt — gehen Sie dafür einfach auf Ihre Website mit diesem link.
Zeichnen, was tatsächlich da ist
Erst wenn wir die „logisch denkende“ Seite unterdrücken, gelingt es, unvoreingenommen wahrzunehmen und nicht das zu zeichnen, was wir zu wissen glauben, sondern das zu zeichnen, was wir wirklich sehen. Probieren Sie es aus. Nehmen Sie dafür ein Foto oder eine grafische Darstellung und drehen Sie das Bild auf den Kopf. Malen sie es dann nach. Ihr Gehirn wird eine Weile rebellieren, weil die Ansicht »falsch« ist. Wenn Sie sich aber ausschließlich auf die Details des Bildes konzentrieren, kann es klappen.
»I firmly believe that given good instructions, drawing is a skill that can be learned by every normal person with average eyesight and average eye-hand coordination.«
– Betty Edwards geht fest davon aus, dass jeder Mensch zeichnen kann.
Das tut auch Dan Roam, der in seinem Buch »Auf der Serviette erklärt« weit weniger künstlerische Ambitionen hat als Edwards. Doch auch er will seine Leser zu mehr visuellem Denken ermuntern:
»Visuelles Denken heißt, Ihr inneres Sehvermögen zu nutzen — sowohl mit den Augen als auch mit Ihrer Vorstellungskraft –, um Ideen zu entdecken, die sonst unsichtbar sind, diese Ideen schnell und intuitiv zu entwickeln und anderen dann so zu vermitteln, dass sie sie leicht begreifen.«
Aus diesem einfachen Grund zeichnet Roam Ideen in schlichten Comics und bedient sich dabei eines einfachen Tricks: »Simplify the Story« — Simplifizierung. Um Ideen, aber auch Aufgabenstellungen oder Herangehensweisen visuell darzustellen, muss Dan Roam diese zunächst durchdenken und auf ihre Grundkomponenten reduzieren. Eine Übung, die ihn diszipliniert und ihm darüber hinaus hilft, Komplexes zu vereinfachen. Dabei bedient sich Roam auch einer sehr einfachen Bildsprache, die zum Nachahmen animiert. Simplifizierung ist auch eine Arbeitsweise, von der Ihre visuellen Storytelling-Fähigkeiten profitieren können.
Versuchen Sie sich in Ihrem nächsten Meeting doch einmal am Flipchart als visueller Storyteller. Doch nicht so schnell. Vorher sollten Sie folgende Schritte berücksichtigen:
1. Durchforsten Sie den Text Ihres Vortrags nach bildhafter Sprache. Verwenden Sie Wörter, die sich direkt in Bilder übertragen lassen. Storyteller sprechen aktiv und plakativ.
2. Übersetzen Sie abstrakte Wörter in bildstarke Begriffe. Nutzen Sie Analogien (Ähnlichkeiten) und Metaphern (Vergleichbares). Markieren Sie die wichtigsten Momente Ihres Vortrags und finden Sie dafür die passenden Symbole — simple Bilder, die Sie schnell und einfach kritzeln (»doodeln«) können.
Und keine Angst vor Ihrem 10-jährigen Alter Ego. Übung macht den Meister, und die Kollegen können es meist auch nicht viel besser. Also trauen Sie sich einfach … oder lesen sich noch mehr ein. Hier sind ein paar hilfreiche Buchtipps, die Sie hoffentlich noch mehr motivieren:
· Betty Edwards ist eine großartige Lehrerin, was sie auch mit ihrem Buch „Drawing on the right side of the brain“ beweist. Vollgepackt mit spannenden Übungen.
· Dan Roam´s Buch „Auf der Serviette erklärte“ ist nicht nur wunderbar anzuschauen, lustig geschrieben, sondern auch motivierende, das man gleich zum Stift greift.
· Sunny Brown zeigt in ihrem Buch »The Doodle Revolution. Unlock the Power to Think Differently« Kreativitätstechniken mit Doodles.
· Wolf W. Lasko hilft beim Brainstormen und Präsentieren mit seinem Buch »Wie aus Ideen Bilder werden«.
· Petra Sammer und Ulrike Heppel: Visual Storytelling: Visuelles Erzählen in PR und Marketing (das Buch, aus dem der obige Text stammt).